Chrimson
»Stellung halten – bis zum Abend!«

Sein Bruder war der erste Mauertote. Zehn Monate saß er selbst in der DDR in Haft, weil er angeblich jemandem zur Flucht verholfen hatte. Seit sechs Jahren betreibt Jürgen Litfin ein Museum, in dem er seine leidvolle Lebensgeschichte öffentlich macht – in einem alten Turm der Berliner Mauer

Wie ein Kapitän blickt Jürgen Litfin nach vorn. Die Arme auf das Geländer am ehemaligen Grenzturms gestützt, als wäre es die Reling eines Dampfers. Vor ihm liegt fast unbeweglich der Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. Der kleine, klotzige Turm hebt sich mit der grauen Beton-Fassade und den Schießscharten fremd ab von den hohen, rosa und weiß gestrichenen Wohnblöcken um ihn herum.    Litfin registriert jeden, der vorbeikommt. Er ist 69 Jahre und von morgens 10 bis zum frühen Abend hier – fast jeden Tag. Er nimmt sein Handy: „Hallo, hier isset Türmchen“. Es kommt nicht oft vor, dass er etwas verniedlicht. Sonst redet er viel von „Schweinen und Scheißkommunisten“ oder „Hundehütten“, wenn er Häuser meint. Aber um den ehemaligen DDR-Grenzturm in der Kieler Straße kümmert er sich liebevoll. Seit zehn Jahren ist er sein Lebensmittelpunkt.

1994 starb seine Frau innerhalb weniger Monate. „Obwohl sie immer bei der Vorsorge war. Die hamm alle nüscht jemerkt, die Pfeifen“, sagt er. 33 Jahre waren sie verheiratet. Am fünften August 1961 war die Hochzeit. Eine Woche bevor die Grenze zugemacht wurde. Drei Wochen, bevor sein Bruder starb. Damals teilte er sich mit ihm ein Zimmer in Ost-Berlin und half ihm, eine Wohnung in Charlottenburg einzurichten.    Sein Bruder, Günter, arbeitete als Schneider im Westen. Mehrere Zehntausend Menschen verließen in diesen Wochen die DDR. Günter sprang am Nachmittag des 24. Augusts in das Humboldt-Hafenbecken. Das andere Ufer war nicht weit, aber schon Westen. Sieben Meter schaffte er, bis die Kugel von hinten in seinen Kopf schlug. Er war der erste, den die Grenzer erschossen. Jürgen Litfin erfuhr es aus dem Westfernsehen. Günter war sein großer Bruder. Der ihm so viel beigebracht und einen anständigen Kerl aus ihm gemacht hatte. Als sie Jungs waren, hatten noch Jürgens Fäuste geholfen, wenn jemand seinem Bruder was wollte.

Jede neue Ungerechtigkeit schürte die Verbitterung. Besonders die Haft ab 1980 wegen angeblicher Fluchtbeihilfe. Litfins hatten einen Schrank von jemandem gekauft, der zu fliehen versuchte. Nach zehn Monaten löste die BRD sie aus, fortan lebten sie im Westen Berlins. Bis Litfins Frau starb. Da gab er die Wohnung auf, weil er sie überall vor sich sah, und ging in Frührente. Auch sein liebstes Hobby ging nicht mehr: Jahrelang hatte er als Schwarzgurt-Träger im Judo-Verein gewirkt, Ausflüge organisiert, den Kindern bei Problemen geholfen. Nun trat er aus.    Er bemerkte, dass der Gedenkstein seines Bruders auf der anderen Seite des Humboldt-Hafens bei Bauarbeiten verschwunden war. Fünf Jahre suchte er ihn, begann, Material für ein Buch über den Tod des Bruders zu sammeln, stellte den Stein wieder auf und bearbeitete die Stadt, bis er eine Gedenkstätte im Turm einrichten durfte. Mit Hilfe von Freunden und Spenden baute er ihn um. Zu einem Ort, an dem er vom Unrecht erzählen kann. „Ich nehme jeden Tag Rache an der DDR und sage, was das für Schweine waren“, sagt Litfin.

Die Straße ist ruhig, sie endet an den Pollern, hinter denen sein dunkler Wagen steht. An der Frontscheibe prunkt die Sonder-Genehmigung der Senatskanzlei für den Parkplatz. Litfin ist zufrieden, wenn er seinen Turm, sein Wasser , sein Auto betrachtet. „Ick bin doch ein reicher Deibel“, meint er grinsend und bläst Rauch aus, „Dit is meine letzte Aufgabe, dit Ziel, was ich jeden Morgen hab’.“      Er wirft seine Kippe in die Hecke. Die Pflastersteine sind sauber, nur in einer Fuge wächst ein platter Löwenzahn. Den verblichenen Spruch „Ab heute: alle glücklich“, den jemand auf die Rückwand des Turms gesprüht hat, hat er aber gelassen. Obwohl er gern für Sauberkeit, Ordnung und Disziplin sorgt. Früher im Judo-Verein erklärte er den Kindern und notfalls auch den Eltern, dass man Zehennägel zu schneiden und Hände zu waschen hat. Hier macht er regelmäßig das Unkraut weg, fegt und erledigt alles, was zu noch seiner Aufgabe gehört.    

„Die hatten beschlossen, die Schusswaffe zum Einsatz zu bringen“, erzählt er im obersten Stock des Turms einigen Neuntklässlern. Er guckt auf das Schwarz-Weiß-Foto seines Bruders. Es zeigt einen jungen Mann mit gemustertem Halstuch. Litfin spricht geübt, als hätte das Beamten-Deutsch der Schriftstücke an den Wänden abgefärbt, schießt aber ganze Salven von Schimpfwörtern dazwischen. Zum Beispiel, wenn er erzählt, dass der Todesschütze im Prozesse Ende der Neunziger eine Haftstrafe auf Bewährung bekam: „Die haben sich alle rausgeredet, die Penner, mit Bewährung sind se davongekommen. Mein Bruder wurde bei denen nur als Verbrecher geführt. Die haben alles so hingerückt, wie sie das brauchten für ihre Scheiß-Schweine-Ideologie.“     Er steht neben der Luke zur steilen Treppe. Schwarze Lederjacke, Hose mit Hahnentritt-Muster, dunkle Slipper. Wie man sich kleidet, hat er von seinem   Bruder gelernt, der ihm als Gesellenstück einen Anzug schneiderte. Im Erdgeschoss hängt ein Schuhlöffel an der Wand, und im kleinen WC klemmt sein Kamm hinterm Spiegel. Dass ihm gute Kleidung so wichtig ist, hilft ihm bei einem Trick: Wenn er jemanden trifft, der ihm überlegen scheint, stellt er ihn sich ohne Anziehsachen vor. Das funktioniert bei ihm fast immer.

Seine Führungen haben ihre eigene Choreographie. Meist steht er an den gleichen Stellen, scheucht die Schüler an der gleichen Stelle aus dem Weg. Im zweiten Stock stützt er sich mit dem Ellenbogen auf dem Fensterbrett ab, der andere Arm schnellt heraus, um auf ein  Foto zu deuten oder einem abgefeuerten Satz Nachdruck zu verleihen.    Schon morgens  ist es heiß unter dem Flachdach, im einzigen Raum mit Fenstern. „Habt ihr noch Fragen, die ich nicht beantworten kann?“, fordert Litfin die Jugendlichen launig auf. Die gucken betreten. „Haben Sie gewusst, dass er fliehen wollte?“, will einer wissen. „Na, hab ich vielleicht nicht auf einem Zimmer mit ihm gewohnt?!“, gibt Litfin zurück, „aber wann und wo, hab ich nicht gewusst.“ Die Jungen stehen vor den Fenstern, der ein oder andere schabt etwas verlegen mit den Schuhen an der Wand. Gegen Ende jeder Saison bleibt eine graue Bordüre auf Wadenhöhe.

Auch in diesem Winter wird Litfin einmal mit frischer Farbe drüber streichen. Er macht fast alles am Turm selbst, hat Maurer gelernt, dann Gießer und Schlosser, weil er nicht mehr aussehen wollte wie vom Bau – studieren durfte er als Sohn praktizierender Katholiken und Mitglied der „illegalen Adenauer-CDU“ nicht. Auf dem Schild am Eingang steht, dass der Turm im Winter zu ist. Urlaub macht Litfin dann aber meistens nicht. Er führt angemeldete Gruppen in den Turm und geht, wenn dort nichts zu tun ist, zu Empfängen oder in Ausstellungen. Er wohnt auf der Fischerinsel, direkt bei den Museen in Mitte.    Aus dem achten Stock des gepflegten Hochhauses gucke er manchmal den Frauen beim Parken zu, sagt er. Abends sitzt er oft vor dem Fernseher. Seine Tochter und die Enkel leben weit weg, manchmal melden sie sich nicht mal an seinem Geburtstag. Er kennt auf der Fischerinsel Leute, doch selbst der Pförtner weiß bei 300 Mietern kaum, wer zu welchem Namen gehört. Litfin hat keine eigene Klingel, nur eine Zahlenkombination in der Sprechanlage.   

Der Klingelknopf am Turm ist abgegriffen. Neben dem Eingang stehen  Chrysanthemen von einer Nachbarin, daneben ein Wasser-Napf für die Hunde des Viertels. Früher hat Litfin den Judo-Verein organisiert. Jetzt hat er den Turm und die Nachbarn dort. Und einen eigenen Hund muss er sich auch nicht anschaffen, es kommen ja genug vorbei.    Die Metalltür öffnet sich, Litfin tritt mit ein paar Touristen aus der Dunkelheit in die Mittagssonne. Ein grauhaariger Mann legt ihm die Hand auf die Schulter: „Machen Sie weiter so, und bleiben Sie vor allem gesund.“ So etwas freut Litfin mehr als Spenden. Er nimmt ein Wurstbrot aus einer Dose, isst die Hälfte und zündet sich eine Pepe Easy Green an, ohne Aromazusätze.   Ein Mann humpelt über das Kopfstein-Pflaster. Er ist Artist und hat einen entzündeten Nerv. „Mensch is dit immer noch nich besser?“, ruft Litfin und geht die Stufen zum Gehweg hinunter. „Noch nich so richtig“, erwidert der Mann. „Na, ick hab dir doch jesacht, dass ich nen juten Arzt hab. Ich fahr dich auch hin!“ „Wenn’s später noch nicht besser ist, mach ich das, danke“, sagt der Mann und biegt grüßend in den Weg am Kanal ab.    Litfin räumt den Napf weg. An seiner Schlüsselkette hängt genau ein Schlüssel, mit dem schließt er den Turm ab. Durch das Fenster im obersten Stock guckt ihm die Schaufensterpuppe zu, die er in eine NVA-Uniform gesteckt hat. „Den hab ich letztens verbeamtet.“

  

Erschienen in Chrismon, 2009

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