Daheim
»Schafes Bruder«


Der letzte Düsseldorfer Schäfer hat ein gutes Plätzchen für seine Tiere: die Großstadt. Mitten in Düsseldorf lässt Albert Görsmeyer seine Tiere am Rhein weiden, wie schon sein Vater und dessen Vater.


Wenn Albert Görsmeyer vorfährt, gucken ihn 1300 Augen gespannt an. Aufmerksamkeit ist ihm garantiert, kaum dass sein staubiger Nissan am Oberkasseler Rheinufer mit den noblen Stadthäusern abbiegt. Das hundertfache „Grrmpf“ von Mäulern, die unermüdlich Gras ausreißen, verstummt, und ein vielstimmiges Blök-Konzert setzt ein.

In Jeans, Fleecejacke und Daunenweste steigt Görsmeyer aus seinem Pickup. 450 Schafe und 200 Lämmer erwarten ihn. Noch versucht die Sonne vergeblich, den Nebel aus den taunassen Wiesen zu vertreiben. Auf dem Rhein ziehen Dunstschwaden dahin, Fernsehturm und Bürobauten zeichnen sich in Schemen ab, von den startenden Flugzeugen kündet nur der Schall. Seit bald zwanzig Jahren hält der 42-Jährige seine Herde hier, mitten in Düsseldorf, wie schon sein Vater und Großvater. „Woanders ist auch kaum Platz“, sagt er, und Atemwölkchen schweben unter seinem rotblonden Schnurrbart empor. Er ist der letzte Düsseldorfer Schäfer.

Er ist gern hier, liebt die Natur und die Skyline. Besonders mag er die halbe Stunde Ruhe morgens – dann setzt er sich und beobachtet seine Schafe, guckt, ob sich eines verletzt hat oder krank ist. Oft wollen ihm seine Töchter helfen und kommen mit. Die beiden Schulkinder haben schon das ein oder andere Lamm mit der Flasche aufgezogen und ihm einen Namen gegeben statt der Einheitsnummer, die auf dem Clip im Ohr steht.

„Finanziell lohnt sich das kaum“, sagt Görsmeyer, der seinen Kindern die Arbeit nicht unbedingt empfehlen würde. Er verkauft Lammfleisch auf dem Hof, aber das Scheren im Frühjahr ist teurer als der Erlös der Wolle beim Großhändler. Also nimmt seine Familie Pferde in Pension, veranstaltet Kindergeburtstage in der Scheune mit Streichelzoo und hält Hühner. Gleich muss er wieder zur anderen Herde, die auf einem Truppenübungsplatz steht, sich um die Pferde kümmern, zwischendurch zwei kranke Schafe am Rhein verarzten und vor Sonnenuntergang noch einmal nach dem Rechten sehen. „Für Urlaub habe ich keine Ruhe“, sagt er. Mehr als ein oder zwei Tage gönnt er sich nicht. Vergangenen Sommer war seine Frau mit den Kindern eine Woche allein in Holland, aber er hat sie abgeholt und dort einen Tag mit ihnen verbracht.

Er holt einen Sack aus seinem Anhänger. Kaum knistert das Plastik, rennen die Schafe herbei. Görsmeyer steigt über den Zaun und wirft ihnen ihr Frühstück hin: Brötchen vom Vortag. Die auch die Krähen und Stare mögen. Sie setzen sich auf die wolligen Rücken der Schafe und schnappen sich hin und wieder ein Stück. „Das merken die Schafe gar nicht“, sagt Görsmeyer trocken. Als eines seiner Tiere ganz nah ist, packt er es beherzt und zieht es zu sich heran. Die Brötchen sind nicht nur Futter, sondern auch Lockmittel. Sie funktionieren besser als Rufen und Zureden. Görsmeyer – was das angeht, ganz klassisch Schäfer – macht ohnehin nicht viele Worte. Ruhig und geübt setzt er das zappelnde 80-Kilo-Schaf auf den Hintern. Im Nu hält es still und streckt die Beine von sich, zur Pediküre.

Mit seinem Schweizer Taschenmesser kürzt Görsmeyer den Tieren regelmäßig die Klauen. Dabei entfernt er, wenn nötig, Scherben und kontrolliert auch das Gebiss. Vor allem im Sommer treten die Tiere immer wieder in Glas, wenn sie – wie feiernde Menschen vor ihnen – unter einem Baum Schatten suchen. Einer der Nachteile des Stadtlebens.

Ein anderer sind Hunde. Die versucht Görsmeyer mit dem Elektrozaun fernzuhalten. „Die Wasserschutzpolizei hat schonmal eins der Schafe aus dem Rhein geholt.“ Nicht weil es baden wollte, sondern weil es vor einem Hund gejagt wurde. Die Polizei kommt auch ins Spiel, wenn Hochwasser angesagt ist. Dann muss Görsmeyer seine Schäfchen ins Trockene bringen – durch die ganze Stadt. Über die Theodor-Heuss-Brücke zieht er mit der Herde und Polizeieskorte quer durch Düsseldorf zu seinem Hof, zweieinhalb Stunden lang. Generell zeigen sich die Schafe gern mal einem größeren Publikum. Die Szenerie von Landromantik im Zentrum Düsseldorf ist zu verblüffend, als dass Filmemacher sie sich entgehen ließen. „Das glaubt ja auch keiner“, meint Görsmeyer, „schon beim Bund hat mir keiner abgenommen, dass wir mitten in der Großstadt Schafe halten.“ Als Beweis kann man sie mittlerweile in Wandkalendern, Werbespots und Filmen sehen.


Erschienen in Daheim, 2011.❦

riegel{at}dagny.de