Daheim
»Tradition am laufenden Band«


Die Bandweberei Kafka stellt wie im 19. Jahrhundert Bänder mit historischen Maschinen her. Die sind nach wie vor bestens in Schuss und halten in der alten Textilstadt Wuppertal ein Traditionshandwerk am Leben.


Vergissmeinnicht und Gänseblümchen bringen den Boden zum Beben. Von allen Seiten rattern die Webstühle in Reih' und Glied, winden das Garn von ihren Spulen und schießen ihre Schiffchen hin und her. Die Sonne scheint schräg durch die hohen Fenster der Werkhalle, die den Geruch einer alten Schule verströmt. Aus Holz und Eisen gebaut, sind die Ungetüme gut doppelt so groß wie ein Mensch und doch Meister der Feinstarbeit: Stück für Stück bringen sie Schmuckbänder hervor. Da ranken Blumen, wachsen Trauben, winden sich Herzchen heraus. Tausende von Fäden finden ihren Weg, seit 1898.

„Die machen seit über 100 Jahren das Gleiche“, sagt Geschäftsführerin Christine Niehage, eine Blondine von 50 mit selbst gewebter Rotkehlchen-Brosche auf dem Pullover, „Wuppertal ist traditionell Textilzentrum.“ Früh bekamen die heutigen Stadtteile Barmen und Elberfeld das Monopol zu bleichen und zwirnen. Bleicher, Weber, Maschinenbauer siedelten sich an und trieben die Industrialisierung voran. Bis zu 80 Prozent der Menschen lebten vom Textilhandwerk. „Die Fabrik war bis 1981 in Besitz der Gründerfamilie“, erzählt Niehage, „dann geriet sie in Schwierigkeiten. Niemand legte mehr Wert auf die feine Gestaltung ihrer Etiketten.“ Nun heißt die Weberei Kafka und produziert textile Schmuckbänder, die über Großhändler an Handarbeitsläden, aber auch direkt an Hersteller und Endkunden gehen.

Zuerst einmal braucht es jedoch das richtige Garn. Das kommt meist aus Ägypten und Indien. „Vor allem muss es stabil sein“, erklärt Niehage, „und darf nicht zu lange lagern, sonst wird es porös und reißt in den Maschinen.“ Zudem braucht es eine gewisse Stärke. „Das hier hat 70 Meter auf ein Gramm“, sagt Niehage und nimmt ein hellblaues Garn zwischen die Finger, „das ist relativ dick, deshalb nehmen wir es zum Beispiel für die Blüten und ein dünneres 100er-Garn für den Grund.“ Sie steht an der Spulmaschine vor einem der hohen Holzfenster des Backsteinbaus nahe der Wupper. Diese Maschine aus den 1950er-Jahren spult Garn von den armdicken Rollen, welche eine örtliche Färberei liefert, auf daumendicke und kürzere Rollen, die in die Schiffchen der Webmaschinen passen.

Sabine Niehage nimmt ein hellblaues Röllchen und geht zu einem Webstuhl. Dort steckt sie es auf einen Drahtbügel im Schiffchen. Diese spitz zulaufende Holzhalter weben das Garn quer in die Kettfäden. Im Gegensatz zum Stricken, bei dem sich der Faden durch Schlaufen schlingt, führt beim Weben ein Schiffchen das Garn durch eine Reihe gespannter Fäden – abwechselnd darunter und darüber hinweg, so dass eine Art Gitter entsteht. Niehage wirft die Maschine an. Zack, saust eine Reihe von Schiffchen mit buntem Garn zwischen den Kettfäden hindurch. Und zack, die nächste. Schneller als ein Wimpernschlag kommt Farbe für Farbe hinzu. So fragil das Garn, so brachial der Krach. Metallisch klappern die Apparate, als stünde man im Innern einer gigantischen Schreibmaschine, dazu stampfen Kolben und Holzteile, rhythmisch wie eine Dampflok.

„Jede Spule ist ein Schuss“, ruft Niehage. Die Schiffchen winden sich nicht mühsam unter und über die Kettfäden, sondern schießen zwischen ihnen hindurch, weshalb diese sich teilweise anheben müssen. Oben in der Maschine hängen Lochkarten, wie Erfinder Jacquard sie Anfang des 19. Jahrhunderts zum Einsatz brachte: sie bestimmen, welche Kettfäden sich anheben. Wenn es jeder zweite ist, entsteht das gleichmäßige Gitter für den Grund. Wenn das Schiffchen sein Garn direkt über mehrere Kettfäden legt, entstehen an den Stellen im Gitter stattdessen Linien, aus denen sich dann Reihe für Reihe die Fläche der Blüten und Blätter zusammensetzt – im Endlosprinzip: So lange Garn nachrollt, fliegen die Bänder leicht wie Luftschlangen heraus und sammeln sich in Holzkisten.

„Das Vergissmeinnicht-Motiv ist 150 Jahre alt“, sagt Niehage. Als helles Wäscheband zierten solche Motive gern Handtücher, Schürzen oder Bettzeug. Mittlerweile produziert Niehage, gelernte Schneiderin, meist eigene Kreationen oder die ihres Teams. „Wir versuchen, keinem Trend zu folgen“, sagt sie, „die sind zu schnell vorbei.“ Je nach Kundenwunsch können sie das Motiv aber in verschiedensten Farben herstellen. In dieser Nische floriert das Handwerk und hat Abnehmer bis nach Japan und Amerika. Der Massenmarkt verdirbt viel, bringt aber auch eine neue Freude am Selbermachen. „Viele junge Frauen nähen wieder, um sich individuell zu kleiden“, sagt Niehage, „und ein Bändchen kriegt jeder auf ein Kleid.“ Es sind vor allem feminine oder kindliche Figuren, die sich aus den Maschinen schlängeln. Dicht an dicht sprießen Heckenrosen, prunkt Kapuzinerkresse in Orange-Rot, duften Erdbeeren, von ihrem Grün umspielt. Jede Blattader, jedes Kernchen hat seinen Platz und wartet darauf, bald ein anderes Gewebe zu verschönern. Ob auf Kinderkleidung, Tischdecken oder Brautwäsche – die Bänder sind dem Stoff eine Zier wie Zuckerguss der Torte.

Niehage geht in die „Haspelstube“, wo eine ihrer Mitarbeiterinnen gerade ein weißes Band mit Gänseblümchen durch ihre Finger gleiten lässt. Konzentriert schneidet sie ein Stück heraus und klebt es wieder aneinander. Dann legt sie es zusammen mit einer Papprolle in eine Maschine und lässt es innerhalb von Sekunden aufwickeln. Maximal eine Klebestelle darf es pro Rolle geben. Niehage nimmt das herausgeschnittene Stück. „Hier ist ein Wechselfehler“, erklärt sie mit Blick auf eine Stelle, die grau statt weiß ist. Die Reihenfolge der Spulen ist durcheinander geraten. „Die alten Zicken von Maschinen produzieren fast nie zehn Meter fehlerfrei“, sagt sie und lacht.

Sie haben ihre Eigenheiten, die gut zwei dutzend Webstühle, die Niehage mit Namensschildern aus Email versehen hat. Nicht jeder Webstuhl kann alles, das Rotkehlchen von ihrer Brosche etwa webt nur der älteste, der als einziger sechs Farben verarbeitet. Er nimmt sich dafür aber auch Zeit, eine Woche für 80 bis 90 Meter Band. Die breiten Vergissmeinnicht-Bänder kann nur Koloss Theo. Zwei bis vier Mitarbeiter sorgen dafür, dass die betagten Giganten gut in Schuss bleiben und das Richtige tun. „Wir müssen alles selbst machen, wenn etwas kaputt ist“, sagt Niehage, „einen Garantiefall, bei dem man einfach etwas nachbestellt oder jemand zum Reparieren vorbeikommt, gibt es hier natürlich nicht.“ Aber zum Glück gibt es einen Rentner, der noch auf den alten Maschinen gelernt hat. Der kommt im Notfall vorbei und hilft, wenn alle Fäden reißen.


Erschienen in Daheim, 2014.❦

riegel{at}dagny.de