Der Freitag
»So, wir kicken jetzt ein Tor«


In Düsseldorf lebt die größte japanische Community Deutschlands. Beim Public Viewing feierten die Fans den WM-Sieg als kleines Gegen-Glück zum großen Unglück.


Hidenori Yoshimatsu stößt mit Altbier auf Japan an. Dem Bistro, vor dem er an diesem Sonntagabend mit seinen Freunden sitzt, hat er eine Japanfahne spendiert. Die hängt jetzt neben der deutschen. Yoshimatsu, Ende Fünfzig, weite Anzugsjacke, sitzt kaum zwei Meter vom Fernseher entfernt auf dem breiten Bürgersteig der Düsseldorfer Immermannstraße. „Japan gewinnt“, tippt er. Wie hoch – egal. Schon dass sie soweit gekommen sind, hätte er nie gedacht. Eine Lieblingsspielerin haben er und seine Freunde auch. Sie beraten sich kurz, deuten auf ihren Hinterkopf. „Sie hat lange Haare“, sagt er, „ich glaube, sie ist sympathisch. Aber eigentlich kenne ich sie gar nicht“. Er lacht, Homare Sawa, ja, das könne sein. Mehr als 8.000 Japaner leben in Düsseldorf, die größte japanische Community in Deutschland. Sie haben eigene Bäcker, Frisöre, Vereine, Restaurants. Aber nur vor dem „Vamp’s“ und den beiden Lokalen nebenan ist während der Frauenfußball-WM richtig was los. „Ich rechne heute mit mindestens 150 Japanern“, sagt Amir Khan, dem die drei Läden gehören. Warum die Japaner ausgerechnet hier so gern herkommen, weiß keiner. Khan ist pakistanischer Herkunft, die Küche italienisch und indisch, das Fernsehen deutsch – mancher Zuschauer stellt einen Laptop mit japanischem Livestream davor, um den Originalkommentar zu hören. „Das ist die einzige Bar, in die japanische Frauen allein gehen“, behauptet Khan, „auch mal bis vier Uhr“.

Das kleine Gegen-Glück

Tatsächlich sind viele Frauen unter den rund 200 Gästen. Zwei von ihnen, die am Rand sitzen, tragen tatsächlich Kimono. „Wir hoffen, dass Japan gewinnt, aber wir haben gehört, dass es schon öfter gegen Amerika verloren hat“, sagt die junge Bankerin im blauweißen Kimono. „Hoffentlich endet es eins zu null für Japan. Wir hatten dieses Jahr großes Unglück.“ Es sind Sätze wie dieser, die so oder so ähnlich oft fallen an diesem Abend: das große Unglück des Erdbebens und das kleine Gegen-Glück der Weltmeisterschaft. Es ist einfach eine zu gute Erzählung. Der deutsche Fernseh-Kommentator ruft sie immer wieder auf, aber auch die Japaner in Düsseldorf beziehen sich darauf. Die Freundin der Bankerin, selbst im grünen Kimono gekleidet, glaubt sogar an positive Auswirkungen auf die gebeutelte japanische Wirtschaft. Ein paar japanische Fans tragen blaue Trikots, sie haben Fähnchen und Trillerpfeifen dabei. Ein schmaler Mann mit dünnem Bart hat eine blinkende Brille aufgesetzt und ein T-Shirt mit rotem Punkt an. „Auf geht’s, Japan schießt ein Tor“, singt er melodisch voller Inbrunst und bleibt dabei immer sehr höflich. Wenn er aufs Klo rennt – geduckt, um niemandem die Sicht zu versperren – bedankt er sich artig bei jedem, der ein Stück rückt. Sehr höflich bleibt der Umgangston auch den ganzen Abend über, untereinander, dem Team gegenüber, auch gegenüber dem Gegner. Statt wilder Flüche hört man oft nur ein „Nein“, oder ein oshi – fast. Dabei müssen die Fans viel aushalten. Die erste Halbzeit ist aufreibend, Amerika ständig vor dem japanischen Tor. Zudem zerrt der Wind laut an der Markise. Kurz fällt das Bild des schwankenden Beamers aus. Yoko Kasubke, eine ältere Japanerin an einem der hinteren Tische, ist zu klein, um den Ball im Sitzen zu sehen. Und zu nervös. Minutenlang drückt sie sich in ihrem blauen Blazer mit beiden Armen auf den Seitenlehnen ihres Stuhls nach oben wie auf einem Barren. Ihre Tochter schiebt ihr fürsorglich eine Decke unter, damit sie höher sitzt. Wenn die Amerikanerinnen sie besonders viel Kraft gekostet haben, sinkt Kasubke matt zurück, isst etwas Pasta, nippt am Wein. Irgendwann um die 27. Minute guckt sie ihre Tochter an und stellt sachlich fest: „Es ist höchste Zeit, dass die Japanerinnen ein Tor schießen.“ In dem Moment trifft der Ball die Latte des japanischen Tors. „Nein“, ruft der junge Mann mit Blinkebrille. Die Frauen im Kimono reißen erst die Hände entsetzt vor’s Gesicht, um dann erleichtert aufzulachen. Nach jeder Schrecksekunde beklatschen sie sofort die Torhüterin, die entweder gehalten hat oder der – was weit häufiger passiert – das Glück geholfen hat. Still und gefasst wird das erste Gegentor aufgenommen. Zeit für Gambare, was so viel wie „vorwärts, auf geht’s“ heißt. „Das sagt man auch zu den Erdbebenopfern“, erklärt Yoko Kasubkes Tochter. Viele hier chatten über Smartphones ständig mit Freunden in Japan. Der Ausgang des Spiels und das Wohl des Landes scheinen an diesem Abend zu verschmelzen. „So, wir kicken jetzt ein Tor“, sagt Yoko Kasubkes Tochter und klopft auf den Tisch. Mit Erfolg. Der Ausgleich wird laut bejubelt.

Nippon, Nippon

Aber kein Vergleich zum zweiten Ausgleich, drei Minuten vor Ende der Verlängerung. „Nippon, Nippon“ hallt es durch die ganze Straße. Alle sind aufgesprungen. Die Schleifen an den Kimonos wippen, die jungen Frauen versuchen, gleichzeitig am Handy und analog vor Ort zu jubeln. Der Wind ist eisig, das letzte Tageslicht weg, und doch: dramatischer geht es nicht. Ab dem ersten Elfmeter ist an Sitzen nicht mehr zu denken. Was wer schreit, wäre auch auf Deutsch kaum zu verstehen. Nach dem letzten Treffer singt der Mann mit Blinkebrille laut: „Oh, wie ist das schön, oh wie ist das schön.“ Die Frauen im Kimono umarmen sich, gucken abwechselnd auf Leinwand und Handy. „Aber beide hätten gewinnen können“, beeilt eine sich anzumerken. Auf dem Tisch von Yoshimatso landet eine Flasche Champagner. Er stößt mit seinen Freunden an, einig, dass das Spiel Japan Hoffnung bringt. Wie das genau aussehen soll? Dazu sagt niemand was Konkretes. Aber das ist an diesem Abend auch egal. Es ist nur Fußball – und bedeutet für einen Moment doch so viel. Yoshimatso macht Handbewegungen wie ein Dirigent, als Konfetti durchs Bild schwebt. Ein Grieche verkündet gerührt, dass Japaner genauso emotional wie Südländer seien. Und Yoko Kasubke kann sich endlich setzen. Strahlend fasst sie das Ergebnis zusammen: „Kleine Japanerinnen schlagen großes Amerika.“


Erschienen in der Freitag, 2011.❦

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