Focus
»Der Denker und die Bäuerin«


Seit mehr als zwei Jahren betreut die schwäbische Bäuerin Margit Hespeler den berühmten  Literaten Walter Jens, den eine schwere Altersdemenz immer hilfloser macht.


Diese Treppe ist ihm ein Graus. Steil ist sie, und durch die schmalen Gitterstufen sieht man auf den gepflasterten Hof. Aber Margit Hespeler steht hinter ihm, bereit, ihn mit ihrem Körper aufzufangen. Dennoch zögert er vor dem ersten Schritt. Sie nutzt die kleine Pause, hebt kurz seinen Parka und guckt, ob die Hose nicht schon wieder über die knochigen Hüften gerutscht ist. Schließlich wagt er es, seine Beine staksen von Stufe zu Stufe und als sie stocken, fasst sie seinen Fuß und setzt ihn auf die nächste Stufe. Mühsam kommen sie aufwärts, bis er auf einmal die Beine einknicken lässt. „Oh nein, bitte net hinsetzte', Herr Jens!“, stöhnt sie. Zu spät. Er hockt auf der fünften Stufe und als sie ihn auf die Beine stellen will, wird er böse und teilt ein paar kraftlose Schläge aus. Sie muss ihren ältesten Sohn und ihren Freund, Alois, zur Hilfe holen. Zu Dritt schieben und ziehen sie den gebrechlichen Mann in die Küche, die im ersten Stock liegt.

Auf allen vier Herdplatten brutzelt und köchelt das Mittagessen, im vorgewärmten Backofen türmen sich Pfannkuchen auf einem Teller. „Ich koch’ genauso gern, wie ich esse. Sonst ging’s  auch gar nicht“, sagt Margit Hespeler und streut eine Handvoll Petersilie in die Rührschüssel, verteilt Öl in der Pfanne, rührt die helle Sauce im hinteren Topf um, schaltet den Spargel runter -  wie immer ein Mittagessen für sieben Familien-Mitglieder und für den berühmten Tübinger Literaten, Altphilologen und Rhetorikdozenten Professor Walter Jens, 86 Jahre alt und mit einer  Demenz geschlagen, die den einst so scharfsinnigen Gelehrten immer mehr zum Pflegefall macht. „Der Mann würd’ lang’ nicht mehr leben, wenn er mich nicht hätt'“, sagt sie und bugsiert ihn an den hellen Holztisch.

Haushaltshilfe gesucht

Ihr Bauernhaus in Mähringen liegt 20 Fahr-Minuten von Tübingen entfernt auf einer Hochebene, von der aus man die Berge der Schwäbischen Alb bis hinüber zum Hohenzollern sieht. Am Anfang habe sie kaum gemerkt, dass er krank ist. „Er hat damals noch viel mehr geredet. Doch irgendwann wurde mir klar, dass er die Bücher aus seiner Bibliothek nur noch durchs Haus trägt, aber gar nicht mehr liest.“ Sie kennt kein Buch des Mannes, der Aischylos und die Bibel übersetzt hat, der neben Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser zu den Star-Kritikern der Gruppe 47 gehörte, spätere Nobelpreisträger wie Heinrich Böll und Günter Grass auf den Weg brachte. Zum Lesen hat sie keine Zeit, und das ist ihr auch recht so. Aber sie findet es schade, ihn nicht als Redner erlebt zu haben, immerhin, ein paar Aufnahmen seiner Vorträge hat sie gesehen. Berührungsängste hatte sie höchstens zu Beginn. Als er zum Beispiel einmal getobt hat, sei es ihr schon komisch vorgekommen, „den Herrn Professor so einfach am Arm zu nehmen und zu beruhigen.“

Knapp drei Jahre ist es her, seit sie sich auf eine Stellenanzeige im „Schwäbischen Tagblatt“ hin gemeldet hatte: „Haushaltshilfe gesucht.“ Damals verbrachte sie die meiste Zeit noch im Hause Jens auf dem sogenannten Tübinger Apfelberg, und half beim Einkaufen und Kochen, zu waschen und die Wohnung sauber zu machen. Abends arbeitete sie dann noch in einem Restaurant in Reutlingen. Für den Hof, den ihr Vater aufgebaut hat, schafft sie seitdem nur noch den „Papierkram“, um Felder und Tiere kümmert sich ihre Familie.

Sie selbst ist in dem Bauernhaus groß geworden, hier lebt und wirkt sie als mütterlicher Mittelpunkt der Familie und wacht über eine Herde aus Schafen, Schweinen, Pferden, Kühen, und Ziegen. Gerade erst hat sie in einer Nachtschicht die Steuererklärung fertig gemacht und auf der Anrichte liegt schon wieder ein Stoß Post. Es ist ordentlich bei ihr, nichts steht herum, die Kunstdrucke mit abstrakten leuchtenden Motiven an den Wänden passen zu den orangefarbenen Vorhängen und Deko-Blumen auf der Fensterbank. Durch das Fenster neben der Terrassentür schaut man auf ihren silbernen Mercedes Kombi, den sie vor der Stallwand geparkt hat. Vor ein paar Wochen hat sie ihren engen Corsa gegen ihn getauscht, sie muss ja immer viel mitnehmen, allein schon den großen Rollstuhl.

Manchmal sagt er meinen Namen

Heute ist sie wie jeden Tag um fünf aufgestanden und nach Tübingen gefahren, zu dem Haus mit tief herunter gezogenem Dach, unter dem ihr Schützling lebt. Die Sonne ist erst schwach hinter der Schwäbischen Alb zu erahnen, als sie den ersten Korb Wäsche in die Waschmaschine füllt. Der zweite folgt mittags, der dritte am Nachmittag. Sie hat Walter Jens seinen geliebten Kaba gemacht und ihn anschließend in seinem Schlafzimmer mit Blick auf den Garten wieder ins Bett gebracht.

Gegen Mittag hört man Wasser im Bad neben dem Schlafzimmer rauschen, dazwischen die Proteste von Walter Jens, der offenbar nicht duschen will. Doch bald darauf sitzt er frisch gekämmt und angezogen im Esszimmer bei seiner Frau, einen gesteppten Latz mit Karomuster um den Hals und vor sich auf dem abwaschbaren Tischset einen Teller mit Spätzle, Salzkartoffeln, Frikadellen und Spargel. Alles hat Margit Hespeler vorgekocht, in Tupperdosen herbeigeschafft und in der Mikrowelle aufgewärmt. Inge Jens zerkleinert die Portionen, reicht ihm die Gabel mit dem ersten Bissen und streicht über seinen Kopf. Ein blauer Fleck auf ihrem Handrücken erinnert noch an den Schlag, den ihr Walter Jens vor ein paar Tagen verpasst hat. Jetzt ist er milde gestimmt, ergreift ihre Hand und hält sie einen Moment.

 

„Manchmal sagt er meinen Namen“, erklärt sie, „aber nicht wirklich bewusst.“ Neunundfünfzig Jahre leben sie schon zusammen, so etwas kann auch eine Demenz nicht ohne weiteres tilgen. Gelegentlich erkennt er seine Frau. Dann freut er sich, wenn sie kommt. Und wenn sie nicht bei ihm ist, weint er öfter. Die Zweiundachtzigjährige sieht es nüchtern, sie sei für ihn so etwas „wie ein vertrautes Möbelstück.“ Für solche Bemerkungen hat sie die Kritik einstecken müssen, hartherzig zu sein, ebenso nachdem sie in einem Interview behauptet hat, „den Mann, den ich liebte, gibt es nicht mehr.“ Es gibt dafür einen neuen Mann, den sie auf eine neue Art zu lieben versucht. Dazu gehören nicht mehr schöngeistige Gespräche oder die gemeinsame Arbeit an Texten wie der Biografie über Katia Mann, sondern einfache Tätigkeiten: Besuch einladen oder ein kurzer Spaziergang vor dem Haus. „Weiter schaffe auch ich es körperlich nicht mehr mit ihm“, sagt sie, „ab und zu lese ich ihm etwas von seinen Übersetzungen vor, der Rhythmus spricht ihn noch an“.

Über den Verstand erreicht man ihn nicht mehr, aber auf der Gefühlsebene

Auf dem Couchtisch liegt ein Band seiner Bibel-Übertragung, mit Holzschnitten seines Freundes HAP Grieshaber. Der Schreibtisch und das Bücherregal stehen noch bereit, aber die braucht er nicht mehr. Inge Jens dagegen sitzt jeden Tag im ersten Stock vorm Bildschirm und schreibt, bis vor Kurzem an ihrer Biografie, jetzt beantwortet sie die viele Post, sobald sie von ihrem Morgenspaziergang zurück ist. Ein Kissen hält ihre Tür einen Spalt offen, damit sie ihren Mann unten im Schlafzimmer jederzeit hören kann.

„Eben habe ich einen Leserbrief beantwortet, in dem eine Frau fordert, ich solle meinem Mann nicht länger das Pflegeheim vorenthalten und überhaupt mit meinen Auftritten aufhören“, erzählt sie, „Dabei kennt diese Frau weder Walter noch mich.“ Auch ihr Sohn Tilman hat heftige Kritik bekommen, weil er in seinem Buch die Demenz des Vaters mit dessen NS-Vergangenheit verbindet. Die umstrittene Frage war, ob man so über einen Menschen reden dürfe, der selbst nicht mehr für sich reden kann. Und noch eine zweite Frage bewegt die Gemüter: Darf man das Leben eines Menschen verlängern, der sich ausdrücklich gegen so eine Verlängerung ausgesprochen hat? „Wenn ich geistig so verwirrt bin, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin, … dann verlange ich, dass alle medizinischen Maßnahmen unterbleiben, die mich am Sterben hindern“, forderte Walter Jens im Jahr 2006 in einer gemeinsamen Verfügung mit seiner Frau, die nun das Problem umtreibt, wie ihrem Mann zu helfen ist. „Über den Verstand erreicht man ihn nicht mehr, aber auf der Gefühlsebene“, sagt sie. Sie und ihre Söhne wissen, dass er so nie leben wollte, merken aber auch, dass er am Leben hängt und es Momente gibt, die ihm Freude bereiten. 

Dass sich der alte Mann möglichst oft freuen kann, dafür sorgt Margit Hespeler, „seine Getreue für zwölf Stunden am Tag, die nur ein Mensch ohne Herz in den Rang einer bloßen Pflegerin degradieren würde“, wie Tilman Jens sie in seinem Buch beschreibt. Sie grübelt nicht lange über Verfügungen und Vergangenes, ihre Zuwendung entspringt keiner Reflexion, ist einfach da wie jede Selbstverständlichkeit. Ihr Verhältnis zu Walter Jens ist nicht gebrochen, sie kennt ihn ja nur mit seiner Krankheit. Was die anderen als Abschied empfinden, war für sie ein Kennenlernen. Ohne groß nachzudenken merkt sie, was ihm gefällt, anders als früher hört er heute gern Schlager, also lässt sie das Radio laufen. Sie brät ihm Leberkäs, nimmt ihn mit zu ihrem Hof, fährt mit ihm in den Zoo oder zu Freunden. Und weil er so einen Spaß daran hatte, ist sie schon einmal so lange Rolltreppe mit ihm gefahren, bis ihr schlecht war. Sie weiß, dass er gern Auto fährt und Gesellschaft sucht. „Man muss ihn fordern“, sagt sie, „sonst geht er kaputt.“ Inge Jens hat ein Nachwort zu dem Buch verfasst, das ihr Mann und der Theologe Hans Küng vor 15 Jahren über Sterbehilfe geschrieben haben. „Vielleicht kann ich von Margit Hespelers Selbstverständlichkeit im Umgang mit meinem Mann lernen“, endet ihr Text.

Walter Jens' Atem rasselt, er hustet kurz und laut. Der Reißverschluss seiner dunklen Strickjacke ist bis unters Kinn geschlossen und reibt an den Bartstoppeln. „Gegen das Rasieren hat er sich heute so gewehrt, dass ich es schließlich sein gelassen habe“, sagt Margit Hespeler und zieht den Reißverschluss sachte ein Stückchen hinunter. Durch die offene Tür tönt „La Paloma“ aus dem Radio, warmes Licht sickert durch die orangefarbenen Organza-Gardinen. Der Geruch gebratenen Fleischs vom Mittagessen mischt sich mit Kaffeeduft. Sie verteilt bunte Teller mit riesigen Stücken Erdbeertorte auf dem Tisch. Und die Medizin gegen die Bronchitis, die ihn seit Wochen plagt. „Wenn er krank ist, bin ich auch krank, vor lauter Sorg'“, sagt sie, gießt Grapefruit-Limonade in ein Glas, – „die mag er viel lieber als Wasser“ – und hält ihm eine graue Tablette unter die Nase. „Kommen Sie, Herr Jens, nehmen Sie die, die hilft Ihnen.“ Unwillig verzieht sich das raue, tief gefurchte Gesicht mit den wasserblauen Augen, die etwas verschwommen in Richtung Tablette schauen. „Das kommt gar nicht in Frage!“, tönt auf einmal seine Stimme, glasklar und präzise.

Oh, so schlimm

Es ist selten, dass der emeritierte Rhetorik-Professor noch in ganzen Sätzen spricht. Wenn sein Gedächtnis ausnahmsweise mal eine klare Diktion im richtigen Tonfall preisgibt, lässt sich für einen Moment ahnen, wie geschliffen seine Redekunst einst war. Heute antwortet er meist einsilbig. Auf die Frage, ob er gegessen habe, kommt fünf Minuten nach dem Essen ein „Nein“, und auf die Frage, was er am Nachmittag machen wolle, ein „Schlimm!“, weil er gerade müde oder traurig ist. „Man muss es einfach interpretieren“, erklärt Margit Hespeler. „Jetzt zum Beispiel fasst er sich an die Brust, als hätte er Schmerzen. Das macht er immer, wenn er Angst hat.“ Der wässrige Blick wird auf einmal richtig nass, die Arme ziehen sich eng um die schmale Brust zusammen. „Oh, so schlimm“, klagt er leise und verzieht das Gesicht. Margit Hespeler widersteht dem Reflex, ihn in den Arm zu nehmen: „Das macht ihn nur noch viel trauriger, dann dauert es ewig, bis es ihm wieder besser geht.“ Stattdessen versucht sie ihm die Angst zu nehmen, indem sie mit ihm redet. „Herr Jens, haben Sie Angst?“ – „Ja, furchtbar, au“, stößt er hervor und schaut sie flehend an. „Aber Sie müssen ja überhaupt keine Angst haben. Gleich gehen wir spazieren, zu den Hunden und Kaninchen. Aber vorher noch Ihren Kuchen aufessen, schauen Sie“. – „Ja?“, fragt er und nimmt die Gabel mit etwas Erdbeerkuchen, die sie ihm reicht. Auch die Tablette verschwindet endlich mit einem Schluck Limo.

Seite an Seite sitzen die beiden am Küchentisch, vor ihnen ein Malbuch. „Lass uns in den Zoo gehen“ heißt es und zeigt Bildchen exotischer Tiere, zu denen es kurze Geschichten gibt. Sie blättert langsam um. „Was ist denn das für ein Tier?“ – „Ja“, sagt er und betrachtet zufrieden die Giraffe. Die Tiernamen laut vorlesen will oder kann er nicht, aber das Buch findet er schön und blättert die letzten Seiten sogar selbst um. Dabei konnte er früher nicht viel mit Tieren anfangen.

  

Arme Kleine!

Angst und schlechte Laune scheinen verflogen, durch Kopfnicken und zustimmende Worte nimmt er am Gespräch teil. Er spürt worum es geht, als sie von ihrer schweren Bein-Operation erzählt, schüttelt entsetzt den Kopf, ruft „Schlimm“! und zittert mit, als sie ihre Angst vor einer Amputation schildert. „Arme Kleine!“ – „Er merkt ganz genau, wenn ich traurig bin oder etwas habe. Dann geht er oft her und streichelt meine Hand“, sagt sie. Aber er kann auch anders, schlägt blitzschnell zu, wenn ihm etwas nicht gefällt. Als ihre alte Mutter vorhin meinte, man solle ihm die Limo-Flasche aus der Hand nehmen, war ihm die Situation offenbar kurz völlig klar. Sofort hat er der alten Frau auf den Arm gehauen.

Jetzt nach dem Kaffee hakt Margit Hespeler ihn ein und führt ihn auf den Hof hinunter. Weit sind die Spaziergänge nicht, nach fünfzig Metern, hinter dem Pferdestall, wo die Felder beginnen, muss er verschnaufen und will nach den zehn Minuten im kalten Wind zurück ins Haus. Es riecht nach nasser Wiese und ein wenig nach Mist. Sie haben die Hunde für ihn losgebunden, die herumtollen und bellen. Sein Liebling Caro entlockt ihm ein mattes Lächeln, „den kenne ich schon lang“, stellt er fest, will jetzt aber trotzdem sofort zurück. „Natürlich braucht man auch Nerven“, gesteht Hespeler, während er sich schwer auf sie stützt. „Wenn er haut, muss man schon aufpassen. Ich hatte einmal einen richtigen Bluterguss nach einem Schlag von ihm.“ Auch nachts wird es zuweilen schwierig. Wenn Inge Jens verreist ist, übernachtet sie bei ihm in Tübingen. „Da bin ich anfangs furchtbar zusammengefahren, wenn er plötzlich in der Schlafzimmertür stand. Dann wollte er mir etwas Wichtiges in einem Buch zeigen oder meinte: 'Ich muss Ihnen mal was erzählen, Frau Hespeler'.“ In einer Nacht hat er sie fünfundzwanzig Mal geweckt. Dafür bedankt er sich jeden Abend, wenn sie ihn ins Bett bringt und das Vaterunser mit ihm betet. „Letztens sagte er: 'Kommen Sie mal näher', und ging so komisch nach vorn. Ich wollte schon ausweichen, weil ich dachte, er haut. Stattdessen hat er mir einen Kuss auf die Wange gegeben.“

In diesem Jahr gönnt sie sich nach mehr als zwei Jahren das erste Mal eine Urlaubswoche. Sie fährt mit ihrem Freund in dem neuen Auto nach Slowenien und sieht zum ersten Mal das Meer. „Zur Not nehmen wir den Herrn Jens halt mit!“ sagt sie lachend. „Wo er doch so gern Auto fährt.“


Erschienen in Focus, 2009.❦

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